Wenn man einen Krimi liest und er zu Ende ist, ist man vielleicht kurz enttäuscht, dass die sich durch das Buch ziehende Spannung (sofern es ein guter Krimi war) nun ein Ende gefunden hat. Man bedauert es und schaut sich nach einem neuen Schmöker um, der einem das gleiche bietet: kurzweilige Unterhaltung. Manchmal erinnere ich mich zu Ende eines solchen Buches nur noch schwer an den Anfang, so schnell fliegen die Seiten dahin, deren Inhalt von geringem Belang ist. Solche Bücher sind mir das Fernsehen.
Ab und an ist es aber gut zu erkennen, dass es auch andere Schriften gibt. Yann Martels „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ ist so ein Buch, welches sich meiner Meinung nach vor allem dadurch auszeichnet, dass es nie berechenbar ist- stets überrascht der Fortgang der Handlung eigene Erwartungen. Es ist fast egal, dass der Kreis der Themen sich am Ende schiesst, denn so wie ein Hemd ein beliebiges Land ist, dem die Begleiter von Hölle und Paradies Leben einhauchen, so hat der lesende Kopf sich schon unzählige Assoziationen geformt, die die Sprachlosigkeit in Bilder fassen. Eine komplex konstruierte Geschichte verschiedener literarischer Formen wird zu einem lesenswerten Genuss, sofern man eine so verstörende Thematik (eine Thematik gibt es genaugenommen auch nicht) als solchen bezeichnen darf. Es ist mit Vorsicht zu betiteln.
Zwischen Schuld, Moral und Stille, Stillstand und Fortgang formt sich ein Stück Literatur, welches ich vergleichbar noch nicht kannte. Schön, dass es den Weg zu mir fand und man mir diese Erfahrung schenkte.
Neben dem Lesen und über Umwege, führte dieses Buch dazu, dass ich in Dante blätterte und endlich wieder Gelegenheit bekam, in meiner wundervollen Ausgabe, die zudem die mir liebste Übersetzung ist, zu lesen. Ausserdem beschloss ich, dass neben meiner schmucken Ausgabe der Aeneis eine handliche Arbeitsversion Vergils im Regal benötigt wird. Das Antiquariat war mein Freund. Gustave Flaubert habe ich, oh Schande, nie gelesen. Natürlich war es unerlässlich die bei Martel erwähnte Novelle zu erstehen um zu sehen, was Julian zu einem erbarmungslosen Jäger machte. Ist man schon dabei, folgt man auch den Hinweisen, dass man sich Madame Bovary nicht verschliessen kann.
Hat man ein solches Buch zu Ende gelesen, stellt sich eine innere Leere ein. Soviel Anschlusslektüre sich nun auch anbietet, die Gedanken kreisen, ganz anders als beim Krimi, noch eine Weile in der Geschichte. Man kann nun nicht zur nächstbesten Sofalektüre greifen, denn obwohl das Hemd des 20. Jahrhunderts höchst fiktive Elemente beinhaltet, vermochte es zu berühren, zu verstören, zu beklemmen, was kein Thriller ihm nachahmt, weil man erkennt und doch nicht versteht.
Was kann man also bedenkenlos nach einer solchen Lektüre in die Hand nehmen?
Den Prinzen von Theben. Else Lasker-Schüler war mir bei meiner grenzenlosen faszination von Gottfried Benn schon häufiger begegnet und sind mir ihre tiefen religiösen Empfindungen oft fremd, so ist ihre Sprache doch allzuoft bewundernswert.
Ihr zweiter Mann, Georg Lewin, war mir bisher nur flüchtig ob seiner Herausgeberschaft bekannt, aber „Mein Herz“ hat ihn mir etwas näher gebracht. Die kurze Zeit ihres Zusammenseins ist in diesem Büchlein dokumentiert in öffentlichen Briefen, die im „Sturm“ Veröffentlichung fanden. Sie sind so wunderbar, wie offen sie die Sehnsüchte jener Frau beschreiben, die nicht immer ein Abbild weiblicher Sinnlichkeit ist. Eine Frau, die ohne Schmach und Schande ihren Mann, der in Norwegen weilt, ununterbrochen darüber auf dem Laufenden hält, wann sie sich in wen verliebt – weil es sich genauso zuträgt. Eine Frau, die beschreibt, wie verliebt eine einzelne Begegnung machen kann und wie schnell die Entliebung geschieht, wenn die gewünschte Aufmerksamkeit ausbleibt. Warum wird solches sonst kaum ausgesprochen? Der Prinz von Theben kann täglich lieben, vernichtend, kindlich oder hingebungsvoll, aber nie ohne Eigennutz. Briefe, die die Berliner Boheme karikieren, die ihr sicherlich viele Feinde eingebracht haben und die mir zeigen, wie zusammenhängend die Künstler, vor allem die Literaten des Expressionismus ihr Dasein fristeten. Zwischen Dekadenz und Armut finden sich sprachliche Spitzen und Herabwürdigungen die ein kompaktes Bild der Caféhausgesellschaft zeichnen, die ich mir so oft zu beobachten können wünsche. Ob ich mich nun mit dem Sturm beschäftige um schlussendlich doch wieder den schwer eingängigen Worten meines Prinz Jussuf zu landen?
Immerhin ist die Bereicherung nach schwieriger Kost ungemein größer, als nach belangloser Berieselung.