In Erinnerung an Menschen.
Nach wie vor erinnere ich mich nicht genau, in welchem Jahr ich nach Dublin flog, ich könnte es nachschauen, aber es spielt doch kaum eine Rolle, ob es 2001 oder 2002 war. Es war mein erster Flug, das erste Mal, dass ich ein Land über den Luftweg verliess, eins der wenigen Male, dass ich das Land verliess, zu jener Zeit.
Auf dieser Reise führte ich ein „Tagebuch“, in dem ich nun gern blättern würde, doch das ist leider nicht möglich. Ich verschenkte es damals – mit Bedacht.
Die Entscheidung für die Studienreise vor dem Abitur fällte der Lehrer, der in unserem Englisch-Kurs (kaum zu glauben, dass ich einmal glaubte, Englisch und ich könnten Freunde werden) seine letzte Verwirklichung vor seiner Pension sah. So sehr wir über ihn lästerten, so ein guter Mensch war er auch, der uns keine Klausur zu schwer gestaltete und Wissen anbot, ohne zu dozieren. Wir sollten also sündhaft teuer nach Dublin reisen und er setze zu seiner Bequemlichkeit eine Flugreise durch. Dublin, seine Stadt der Städte. Bis zum vergangenen Wochenende waren die meisten Erinnerungen an diese Fahrt wie weggeblasen, aber nach und nach kamen sie zurück. Es wurde eine Reise aus dem Bilderbuch, mit Aktivitäten, die für junge Abiturienten zu attraktiv erschienen, es wurde seine Reise. Leider verstarb er wenige Tage vor Reisebeginn und wir mussten die Fahrt getrübter Stimmung allein antreten, kein anderer Lehrer konnte würdiger Ersatz sein.
Was in Dublin geschah, war für mich zweitrangig, denn an vieles entsinne ich mich nur schemenhaft. Wäre ich nicht dieses Wochenende durch die Stadt gelaufen und hätte mich erinnert gefühlt, beim Anblick des Trinity Colleges und des Book of Kelts, beim Rugbyspiel der Collegemannschaft, beim Flanieren durch die Strassen mit ihren hübschen Türen, beim überqueren der Brücken – ich hätte kaum gewusst, was ich damals gesehen habe. Ein Gefängnis, die Jameson Destille, einen Park mit Shakespeare-Aufführungen und Temple-Bar, die ich allerdings optisch nicht erinnerte, nicht einmal als ich mittendrin stand. So war Dublin damals und so war es jetzt. Anders war lediglich, dass ich aufgehört habe, über meine Reiseerlebnisse Tagebuch zu führen; nur einige wenige Postkarten fanden einen Weg aus dem Land. Es gibt keinen Adressaten mehr, dem ich durch das Wort so nah sein wollte. Vielleicht gibt es sogar Adressaten die es verdienten, bei denen ich es wollte, doch keinen, bei dem ich meine Worte so gut aufgehoben geahnt hätte wie damals, keinen, von dem ich das Gefühl gehabt hätte, er würde es würdigen, wenn ich Seite um Seite in ruckeligen Bussen beschmiere, allein um des Gefühls willen, ihm in Gedankennähe zu kommen.
Das Internet war noch kein alltägliches Medium vor 10 Jahren, aber durchaus in Benutzung; es war jene Zeit, in der wir uns noch nicht zwischen Briefen und Emails entscheiden konnten, weil jedes Abrufen der virtuellen Post Geld kostete und die Suchtgefahr, sich ständig einzuwählen zu groß war im Hinblick auf die Geldbeutelbelastung. Unser schäbiges Hostel hatte bereits einen internetfähigen Rechner und Abend für Abend fütterte ich ihn mit Münzen, um die Worte des Adressaten lesen zu können. Es verging kein Tag ohne, ich hätte schon damals – wenn auch aus anderen Gründen – nur mit Mühe den Blick vom Emailpostfach abwenden können.
Als ich dieses Wochenende in Dublin war, war vieles meinem letzten Besuch ähnlich. Das Publeben blieb und wuchs in den Vordergrund, das Gefühl der Entspannung, die fremde Städte ausstrahlen, weil man auf Menschen trifft, die keine Alltagssorgen mit einem teilen, bereitete sich wie erhofft aus. Einst lernte ich Weltenbummler im Hostel kennen (oh, wie spannend diese Welt für mich war! Argentinier und Spanier hatte ich, frisch volljährig, bestimmt nie zuvor getroffen!), nun fühlte ich mich im Pub – nicht immer ohne Geringschätzung – wie beim Speeddating unter Norwegern und Finnen, Amerikanern, Iren, Deutschen, Spaniern und anderen, durchaus netten Unbekannten, so kurz waren die Zeiten, in denen man mit zwei Mädels allein bei Livemusik herumstehen konnte. Beide Male hatte ich viel Spass, ohne Frage.
Die Erinnerung an Damals liess sich im Jetzt nicht ganz ausschalten. Was wohl aus meinem „Dublintagebuch“ geworden ist? Vermutlich hat dieses Heftlein voller Briefe und Notizen, voller Belanglosigkeiten und tiefen, emotionalen Aussprüchen kein gutes Schicksal ereilt. Es könnte im Altpapier gelandet sein oder einem der zahlreichen Umzüge zum Opfer gefallen sein, vielleicht ist es auch in Rauch aufgegangen.
Nicht, dass ich es allzusehr vermisst hätte… aber die Vergänglichkeit des Papiers, die Ernüchterung, dass auch die Sicherheit, sich an den rechten Adressaten zu wenden, vergänglich ist, hat mich diesmal davon abgehalten, mehr zu schreiben als ein halbes Dutzend knapper Postkarten. Der Austausch fehlt mir. Die Tatsache, dass Personen kommen und gehen, habe ich akzeptiert, aber die Erinnerung bleibt. Ich erinnere mich, dass ich mich einst in Dublin so gern an diesen Menschen erinnert habe, dass nur Worte meine Gedanken milderten. Das ist so lange her.